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Wer spricht von Revolution?

15.03.2021: In den letzten Wochen wurde von einer Jahrhundertreform des Föderalstaates gesprochen – sogar das Wort „Revolution“ ist gefallen.1 Die Presse hat das Thema kaum aufgenommen, von einigen wurde der Vorstoß belächelt. Zu Unrecht, denn die Aussage stammt vom Bundestagsfraktionsvorsitzenden einer Regierungspartei. Man sollte ihm zuhören -  auch Verbände und Interessenvertretungen.

Von Adrian H. Messe

 

Der Föderalismus am Limit?

Es ist scheinbar die Renaissance der starken Landesväter und -mütter, das Wiedererstarken der Landesregierungen und des Bundesrates: Die Protagonisten der Pandemiebekämpfung sind die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten – ohne die Parlamente. Doch bedeutet Föderalismus in Deutschland vor allem Pluralismus, von Kopf bis Fuß ist die Republik subsidiär und föderal gegliedert. Das Erfolgsmodell Föderalismus kommt durch die Pandemie jedoch an seine natürlichen Grenzen, sodass die Bund-Länder-Konferenz zur Pandemiebekämpfung ein neuer Standard geworden ist, der eben diese Grenzen kompensieren soll.

Das sollte auch Interessenvertretungen aufhorchen lassen. Der Föderalstaat hat ein System aufgebaut und gefördert, das auf dem Wissenstransfer der Interessenvertretungen, Kammern, Verbände und Genossenschaften beruht. Es ist schlichtweg unmöglich, Staat und Gesellschaft in Deutschland ohne sie zu führen. Sie sind Garant für Innovation und geben unzähligen Betrieben, Arbeitnehmern und Arbeitgebern eine Stimme. Doch schließen sich in der Bundesregierung und bei den Ländern bei der größten Krise seit 1945 die Reihen – ein natürlicher Vorgang, denn Regierungen müssen in Krisenzeiten handlungsfähig sein. Doch wenn sich bei Bund und Ländern die Reihen schließen, wird es für Interessenvertretungen immer enger: Statements und Forderungen der Interessenvertretungen dringen immer weniger bis in die Hausspitzen der Bundesregierung durch. Durch die wenigen Lücken schlüpfen nur jene durch, die sich mit guten Argumenten Platz verschaffen können. Kleinere Verbände oder Lobbys müssen da schon stärker strampeln. Das deutsche Staatswesen ist jedoch nicht geschaffen für Top-Down-Entscheidungen, denn ohne den Input von unten fällt es oben schwer, den Überblick zu behalten.

 

Das Kaskadenrisiko steigt, der Reformdruck auch

Das Staatswesen kämpft an zwei Fronten, auf der einen gegen ein tödliches Virus, auf der anderen gegen die Wirtschaftskrise und damit erzwungenermaßen gegen sich selbst. Es ist ein typisches Gefangenendilemma. Das trifft auch Kommunen, Bezirke, Regionen, Länder und den Bund, denn immer weniger Steuergelder gehen ein, während die Ausgaben nicht sinken. Die großen deutschen Verbände haben der Regierung in den letzten Monaten immer wieder Handlungsbedarf aufgezeigt. Die Ergebnisse sind bekannt. Die drohende Kaskade nun bedeutet folgendes: Jedes staatliche System kann Teilausfälle bis zu einem bestimmten Grad gut kompensieren, wie bei einem Überlaufbecken. Die Wahrheit ist: Der Föderalismus hat Deutschland stark gemacht, sodass alle Krisen des 21. Jahrhunderts bisher irgendwie gut überstanden werden konnten. Wahr ist auch: irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem Ausfälle nicht mehr kompensiert werden können, es kommt zur Kaskade mit unabsehbaren Folgen: es tauchen Ausfälle auf, die scheinbar nichts mit dem eigentlichen Problem zu tun haben, jedoch auf der Metaebene durchaus miteinander verknüpft sind.

Ein Beispiel: Der Autoverkehr in der Stadt staut sich, ohne dass eine direkte Störung auf der Straße vorliegt. Das Problem aber ist gar nicht auf der Straße zu suchen, sondern in einem Parkhaus: der starke Einkaufsverkehr der Autofahrer hat eine Schranke bei der Einfahrt bis hin zum Ausfall überlastet und nichts geht mehr rein oder raus. Der Stau der Einkaufsfahrer verlängert sich über das Parkhaus hinaus bis auf die Kreuzungen und Abzweigungen, das eigentliche Problem aber ist nicht zu finden. Es kommt zum Verkehrsinfarkt. Der Elektriker, der die Schranke reparieren soll, steht einen Kilometer weiter im Stau und fragt sich, was eigentlich los ist und kündigt seine Verspätung an.

Für den engagierten Elektriker wie für die Interessenvertretungen gilt das Gleiche: Das Schwierige, insbesondere für die Letzteren, ist dabei zu erkennen, ob es sich bereits um eine Kaskade handelt, oder ob die Probleme noch kompensiert werden können und das System im Fluss bleiben kann.

Um diesem Kaskadenrisiko zu entrinnen hilft nur eines: Umdenken und Handeln. Für das Beispiel gilt: Nicht mehr Parkhäuser wären die Lösung, denn dafür wäre kein Platz, sondern ein Umstieg. Gewiss ist das eine Binsenweisheit, doch sind die naheliegendsten Lösungen oftmals diejenigen, die ungern gesehen werden, denn der Blick ist im Stau vor lauter Autos nunmal verstellt. Genauso ist es beim Staat: Ein Flickschusterwerk an Föderalismusreförmchen wird nicht weiterführen, denn irgendwann ruft jeder Staatsrechtler zur Hilfe, wenn sich verschiedene Regulierungsregime gegenseitig behindern - der Föderalismusinfarkt droht. Die Hyperregulierung ist also keine Lösung. Um den Föderalismus zu bewahren, muss er schlichtweg in der Tiefe reformiert werden.

 

Große Reformen bedeuten große Umwälzungen

Dass ein Fraktionsvorsitzender einer Bundestagsfraktion alleine schon das Wort „Revolution“ in den Mund genommen hat, ist historisch einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik. Jedoch sollte das nicht belächelt, sondern durchaus ernst genommen werden. Zugegeben - „Revolution“ ist vielleicht etwas hoch gegriffen – die Intention indes ist es nicht. Denn: Nach der Krise ist vor der Krise.

Eine groß angelegte Föderalismusreform kann nur eines bedeuten: eine prozessuale Zentralisierung. Es muss jedoch nicht alles zentralisiert werden, sondern lediglich Teilaspekte der subsidiären und föderalen Ordnung. Das Staatswesen wird sich den Herausforderungen der Digitalisierung, den Umwälzungen auf EU-Ebene und den Herausforderungen der Globalisierung und des Klimawandels stellen müssen. Der Bundesrepublik steht die größte Reform seit ihrem Bestehen bevor und es wird Jahre dauern, bis sie abgeschlossen ist.

Doch kann diese Megareform große Chancen aufdecken, denn sie kann den Blick wieder frei machen für die wahre Stärke der Subsidiarität: Freiheit, Innovation und Pluralität – kein zentralistisches System kann diese Vielfalt jemals erreichen. Der Föderalismus ist der Garant für den Wohlstand in der Bundesrepublik. Seine Reform wird daran gemessen werden, ob es gelingt die Balance zwischen Subsidiarität und Flexibilität zu wahren.

Der Wind dreht sich und wird vor allem dort Unwetter aufkommen lassen, wo Geld, Politik, Arbeit, Soziales und Wirtschaftsinteressen zusammenkommen: in der Interessenvertretung. Lobbyismus bedeutet auch Verantwortung, nicht nur gegenüber dem eigenen Klientel, sondern gegenüber dem Staatswesen an sich. Die Teilhabe an der nächsten Föderalismusreform ist ein gesellschaftliches Gesamtprojekt, dessen Gelingen vor allem daran hängt, dass es nicht mit angezogener Handbremse von statten geht. Es müssen Sachverstand der Branchen, der Bürgerschaft und der Interessenvertretungen Vorrang vor Ideologie, Polarisierung und Popularisierung behalten.

 

Interessensvertretung fit machen für das 21. Jahrhundert

Was müssen Interessenvertretungen also tun, worauf sich einstellen? Das gesamte Verbandswesen ist in Deutschland föderal ausgerichtet. Auch wenn es zuweilen unübersichtlich ist, hat es unzählige Vorteile. Es ist das sonnige Spiegelbild des Föderalismus, denn es fördert Wettbewerb, Innovation und Wohlstand. Zugegeben: Einige Verbandsorganisationen in Deutschland sind bereits jetzt reform- oder gar auflösungsbedürftig. Zusammenlegungen von Interessenvertretungen sind selten der Fall, sodass einige Verbände auf Dauer vom Zahn der Zeit gebissen werden und niedergehen.

Klar ist: Eine Zentralisierung des Föderalstaates, ohne in aufzulösen, wird dauern – jedoch wird sie unvermeidlich kommen, denn die Pandemie gleicht einer Offenbarung des Reformbedarfs auf staatlicher Ebene. Lobbyisten und Interessenvertreter müssen sich schon jetzt darauf einstellen, denn es kommt unglaublich viel Arbeit auf sie zu.

So ziemlich jedes Regulierungsregime der Länder und des Bundes wird davon betroffen sein. Und woher soll das für die Reformen notwendige Knowhow kommen, wenn nicht vom Verbandswesen? Niemand hat mehr Einblicke in die Branchen und Strukturen als die Lobbyisten. Wenn das Grundgesetz einer solchen umfassenden Reform standhalten soll, wird man ihnen zuhören müssen  - sie selbst sollten sich darauf einstellen, zuweilen laut werden zu müssen. Doch tun sich vor allem für Interessenvertretungen unglaubliche Chancen der Gestaltung und der Teilhabe auf, die es zu nutzen gilt. Wer jetzt seine Strategien, Gremien und Mitglieder bereits darauf einstellt, wird deutlich im Vorteil sein, wenn es darum geht, sich einzubringen. Der Staat wiederum wird Mechanismen entwickeln müssen um sicherzustellen, dass Partikularinteressen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern angemessen beachtet werden.

 

Quellen:

[1]:  Interview des Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Ralph Brinkhaus mit der Welt am Sonntag vom 21.02.2021: https://www.welt.de/politik/deutschland/plus226750141/Ralph-Brinkhaus-Wir-haben-schon-jetzt-Formen-von-Impfbevorteilung.html [Stand: 22.02.2021].

 

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