Foto: Unsplash, Tingey Injury Law Firm
31.05.2021: Seit knapp 10 Jahren erfreuen sich Wahlprüfsteine, also branchenspezifische Fragen zu den Bundestagswahlen an die Parteien, immer größerer Beliebtheit bei den Interessenvertretungen. Nun reagieren die Parteien dieses Jahr erstmalig mit einer digitalen Professionalisierung und Verallgemeinerung der Beantwortungen. Lohnt sich der Aufwand für Lobbyisten noch, oder müssen Interessenvertretungen neue Formate entwickeln, um vor den Wahlen an fachgerechte Informationen zu kommen?
Von Adrian H. Messe
Zugegeben, Wahlprüfsteine sind keine Erfindung der letzten Jahre, sondern ein wirklich alter Hut. Sie dienen den Interessenvertretungen in Form von Fragekatalogen dazu, die Parteien vor der Bundestagswahl spezifisch zu Themen zu befragen, um beispielsweise den eigenen Verbandsmitgliedern durch eine Bewertung dieser Antworten eine Wahlempfehlung abzugeben. Es handelt sich nicht nur um eine reine Informationsabfrage. Es ist auch ein politisches Druckmittel, um Parteien und Kandidaten zu zwingen, Positionen zu beziehen oder Lücken offenzulegen.
Die Wahlempfehlung der Interessenvertretungen wiederum kann direkt oder indirekt erfolgen. Mit der voranschreitenden Digitalisierung können sich Interessenvertretungen immer besser vernetzen, Wissen austauschen und somit dezidierte Fragenkataloge erstellen. Und die haben es in sich: Die Parteizentralen werden in den Monaten und Wochen vor der Wahl mit unzähligen dieser Anfragen geradezu bombardiert. Manche Verbände schreiben gleich mehrere, ausführliche Abfragen zu ganzen Themenkomplexen. Kein Wunder also, dass einige Parteien nun erstmalig mit einer digitalisierten Systematisierung und Professionalisierung ihrerseits reagieren. Die Abarbeitung der Fragen geschieht vor allem zentralisiert. Und somit vermutlich weniger spezifisch. Die Frage lautet nun, ob die Qualität der Beantwortung darunter leidet oder sich verbessert und somit, ob sich die Arbeit für die Verbände überhaupt noch lohnt.
Nur die wenigsten Interessenvertretungen wissen oder interessieren sich dafür, wie diese Beantwortungen ablaufen. Jedoch wäre dies wissenswert, denn davon hängt schließlich ab, ob die Antworten überhaupt von ihnen verarbeitet werden können oder nicht. Ein Beispiel: Eine Organisation erstellt einen umfangreichen Wahlprüfstein zum Immobiliengewerbe. Gleichzeitig wird der Fragenkatalog den Verbandsmitgliedern online zur Verfügung gestellt. Diese wiederum stellen die Fragen an die Wahlkreiskandidaten ihres Geschäftsgebiets, um „individuelle“ Antworten zu bekommen. Die Kandidaten, ganz gleich, ob Abgeordnete oder Mandatsträger in Spe, wenden sich an die Parteizentralen und bitten um Hilfe bei der Beantwortung. Fakt ist, dass nicht selten die Fraktionsreferenten der Parteien in den Parlamenten an der Beantwortung mitarbeiten oder sie ganz übernehmen, obwohl diese Form der Parteiarbeit für Wahlkampfzecke grundsätzlich kritisch zu sehen ist. Aus Erfahrung kann ich sagen: das machen alle Parteien und Fraktionen so, ganz gleich welche Couleur.
Im Ergebnis bekommen der Verband und seine Mitglieder die gleichen Antworten. Nur selten machen sich Kandidaten die Mühe, Fachfragen individuell zu beantworten, meistens werden die Vorgaben nur sprachlich abgewandelt. Ein echter Mehrwert entsteht kaum. Selbst bei Themen, die eindeutig kommunalpolitischen Charakter haben, holen sich die Kandidaten Hilfe bei der Beantwortung. Diese Wahlprüfsteine sind nicht zu verwechseln mit den normalen Interviewanfragen oder Informationsbitten, die üblicher Weise Bürger und Vereine direkt an die Kandidaten stellen. Zwar wird auch hier Fachwissen von Partei- oder Fraktionseinheiten abgerufen, doch sind normale Beantwortungen nicht bindend. Bei der Beantwortung der Fragen eines einflussreichen Immobilienverbandes jedoch kann es sein, dass die Parteien die Beantwortung vollständig übernehmen. Das bedeutet, dass es nicht selten geschieht, dass Abgeordnete selbst auf die Beantwortung durch die Parteizentrale verweisen, was viel transparenter und direkter ist.
Ein weiterer Aspekt ist beachtenswert. Insbesondere kleine Parteieinheiten, zum Beispiel kleinere Oppositionsparteien bei einer Landtagswahl, stehen vor großen Herausforderungen, wenn es um die Beantwortung von umfangreichen Wahlprüfsteinen geht. Sie genießen nicht den Regierungsbonus, können im Zweifel kein Ministerialwissen anzapfen und haben deutlich weniger Referenten zur Beantwortung zur Verfügung. Das ist auch der Grund, warum fachlich gesehen oftmals nicht Arbeitsgruppen, sondern themenübergreifende Arbeitskreise die politischen Ausrichtungen der Fraktionen und Parteien bestimmen. Für die Beantwortung von Wahlprüfsteinen bedeutet das: nicht selten sind Parteien schlichtweg überfordert. Der ein oder andere Wahlprüfstein fällt unter den Tisch. Die Fachpolitiker und ihre Mitarbeiter sind bis in die Abendstunden damit beschäftigt, die Antworten zu erstellen, die ihren Kollegen als Muster zur Verfügung stehen sollen. Die größeren Parteien, insbesondere jene mit Regierungsbeteiligung, haben deutlich mehr Ressourcen bei der Beantwortung.
Die Fragmentierung der Interessenvertretung durch immer mehr, immer kleinere und immer professioneller arbeitende Organisationen ist für die politische Beantwortung von Fragen also Fluch und Segen zugleich: Einerseits werden Pluralismus und die Formulierung von Partikularinteressen gestärkt. Andererseits fällt insbesondere bei den kleineren politischen Einheiten die Beantwortungsqualität, da der Druck zu groß wird. Es kann also tatsächlich geschehen, dass sich ein einziger Referent oder ein einziger Abgeordneter mit der fachlichen Beantwortung von Abfragen ganzer Themenkomplexe befasst. Zu viele dieser Abfragen können sie bis hin zum Bearbeitungsstop lähmen. Somit wäre weder den Fragestellern noch den kleineren Parteien geholfen.
Die Tendenz zu mehr Wahlprüfsteinen lässt sich auf vielfältige Weise interpretieren. Eine davon könnte sein, dass die mangelnde Profilierung der Parteien im Vorfeld der Wahlen die Interessenvertretungen dazu veranlasst, eine Determinierung zu Stellungnahmen durch Fragenkataloge zu erzwingen. In der Flut der Anfragen jedoch geht die Qualität der Beantwortung buchstäblich baden. Bei einigen umfangreichen und von namhaften Verbänden stammenden Wahlprüfsteinen lässt sich jetzt bereits beobachten, dass alle ungeklärten Themen der letzten Jahre in Form von kaum verhohlenen Forderungen statt als Fragen formuliert sind. Das Format der Wahlprüfsteine könnte somit in den kommenden Wahlen einer starken Inflation unterliegen, indem die Parteien lediglich die immer umfangreicher werdenden Wahlprogramme rezitieren – sofern sie dann bereits solche Programme vorliegen haben.
Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage lautet darum: jein. Noch lohnt es sich Wahlprüfsteine zu erstellen, doch wird zu prüfen sein, ob und wie die Antworten bereits für die kommende Bundestagswahl einsetzbar sind. Die Lösung sollte eine andere sein. Die Interessenvertretungen müssen neue Modi entwickeln, frühzeitig und kontinuierliche Informationsflüsse zu schaffen. Plattformen wie Abgeordnetenwatch sind kaum zielführend. Auch parlamentarische Abende oder dergleichen sind kaum dazu geeignet, Partei- und Regierungsvertreter zu einer fachpolitischen Positionierung zu bewegen. Stattdessen muss neu gedacht werden. Fachpolitische Abfragen sollten kürzer, prägnanter und vor allem transparenter gestaltet werden. Sie sollten der Entwicklung gerecht werden, der zufolge der Parlamente immer weniger dazu in der Lage sind, schwierige und tiefgreifende Themen konsequent zu beantworten. Beispielsweise könnten sich Verbände öfter zusammenschließen und gemeinsame Wahlprüfsteine erstellen. Ferner sollte anerkannt werden, dass das Agendasetting der Parteien vor den Wahlen auf multiplen Ebenen geschieht, also auf Parteiebene, Regierungsebene und Fraktionsebene. Innerhalb dieser Ebenen wiederum gibt es abermals Spezifizierungen, also bei den Parteien Bezirksverbände, Kreisverbände oder Facharbeitskreise der Länder. Hinzu kommen die Fraktionen. Es wird also wichtig, den Überblick zu behalten, wer was kann und wer was will. Besonders dann, wenn diese Ebenen unterschiedliche Ziele und Argumente kommunizieren.
Verbände müssen professioneller werden, herausfinden welche Ebene innerhalb der Parteien welche Forderungen stellt und im Sinne eines Stakeholdermappings entsprechende Kommunikationskanäle eröffnen. Die Parteizentralen wiederum müssen einsehen, dass sie es mit immer besser ausgebildeten und besser informierten Referenten in den Interessenvertretungen zu tun haben, welche die Parteiprogramme bestens kennen und nicht mit Allgemeinplätzen ruhiggestellt werden können. Somit müssen die Parteien früher in das konkrete Agendasetting vor einer Wahl einsteigen und den Prozess der Themenfindung und -Bearbeitung noch stärker, professioneller und transparenter nach außen kommunizieren.