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28.08.2020: Die Corona-Hilfen laufen auf Hochtouren: Was die wenigsten Menschen im Land mitbekommen ist das täglich Brot der Kammern, Verbände und Vertretungen. Die Frage ist nur: hilft es? Der Staat kann nur das hören, was nicht im Sturm des Lockdowns untergeht.
Keine Branche, die nicht von den finanziellen Folgen der Corona-Krise betroffen ist. Hilfen und Unterstützungen gibt es viele, klar ist aber: nichts ist umsonst und nichts ist unbegrenzt. Die Vereine, Verbände, Kammern und Interessenvertretungen haben nicht nur Kritik und Unmut geäußert, sondern auch konkrete Handlungs- und Verbesserungsvorschläge dargelegt.
Die Landesparlamente und -Ministerien, der Bund und die Kommunen stehen im ständigen Austausch mit ihnen. Das ist gut so. Nur so können Entscheidungsebenen in Erfahrung bringen, was nachjustiert oder ganz neu aufgezogen werden sollte. Das Problem: Es gibt unzählige Interessenvertretungen, Lobbyisten und Fachleute. Sie tummeln sich in Anhörungen, Expertengremien, Fachgruppen, Arbeitskreisen oder Innovationszirkeln. Sie fabrizieren wie am Fließband Statements, Presseartikel, Prognosen, Fachbeiträge und, und, und. Wer soll das alles lesen? Wie sollen Arbeitseinheiten auf staatlicher Ebene durchsuchen, filtern, bewerten, auswählen und zusammenführen? Entscheidungen dazu werden, insbesondere auf ministerialen Ebenen, nicht demokratisch gefällt, sondern aufgrund von Einschätzungen auf Referatsseite, die an die Leitungen weitergegeben werden. Es finden politische Abwägungen statt: welches Statement hilft in der politischen Agenda? Wer ist vertrauenswürdig? Wie sehen unsere eigenen Prognosen aus und was machen wir mit dem Output? Machen wir uns nichts vor: ohne gute Kontakte geht nichts. Es ist unmenschlich zu verlangen, alles gleichwertig wahrzunehmen. Es ist unpolitisch zu verlangen, alles gleichwertig zu beurteilen.
Die Entwicklung ist weltweit gleich: Die Komplexität von Branchen und Staaten wächst nicht linear, sondern exponentiell. Die Folge ist ebenfalls – wenig überraschend – stets dieselbe: immer mehr Interessenvertretungen und besonders in Deutschland auch die Kammern als spezielle staatlich beauftragte Organisationen geben den Takt der Interessenvertretung an. Von der künstlichen Intelligenz bis zum Klimawandel: Die Komplexität der Fragestellungen wird weiter steigen. Der Staat muss ihnen begegnen, indem er die Komplexität anerkennt und den Gordischen Knoten der Informationsfülle durchschlägt. Das kann jedoch kein Ministerium, keine Regierung, und keine Entscheidungsebene jemals alleine schaffen.
Kurzum: Es werden in Zukunft noch mehr Informationen werden, als es heute schon sind. Schon heute kommt es vor, dass in Deutschland ein Bundesland eine innovative Idee hat und umsetzt, jedoch nichts davon weiß, dass ein anderes Land gerade die gleiche Idee hat. Insbesondere bei den Corona-Hilfen ist dieses Problem zu beobachten: Der Bundesrat ist mit der Fülle der Einzelmaßnahmen seiner Mitglieder schlichtweg überladen. Alle Förderungen von Bund und Ländern aller Branchen und Bereiche zusammengefasst und gedruckt würden auf kein Plakat dieser Welt passen – wenn man es denn lesbar machen wollte.
Die Interessenvertretungen sind oftmals besser aufgestellt: Sie erstellen für ihre eigenen Mitglieder zum Beispiel Übersichten, die professionell und übersichtlich alles zusammenfassen – up to date und verlässlich, die Ministerien greifen gerne darauf zurück. Es liegt nun an Bund und Ländern Mechanismen zu entwickeln und einzusetzen, die das Know-How sinnvoll einsetzen. An den Interessenvertretungen wiederum liegt es, diese gekonnt nicht nur an die eigenen Mitglieder, sondern auch an den Staat zu vermitteln. Die klassischen Formate von Anhörungen, Call-for-Papern, Submission-Dates und beauftragte Studien sind nicht mehr zeitgemäß. Experten-Netzwerke, die sich autonomer und freier bewegen, in denen der Staat ein gleichberechtigter Partner am Tisch ist, haben sich zwar bewährt, ertrinken aber ebenfalls in der schieren Datenmenge, denn es wird mehr produziert, als diskutiert.
Was also tun? Der reaktive und kränkelnde Charakter des vom glattgespülten, digitalen Massenkonsum und Globalisierung gesättigten Staatswesens hat vom Corona-Virus den Todesstoß erhalten; er ist vom digitalen Overflow fortgespült worden. Es gilt aktiv zu werden: Es muss wieder mehr diskutiert werden – nur durch Diskurse können Inhalte und Wertesysteme geschaffen und vermittelt werden. Nur durch Diskurse kann die Komplexität verschiedener Motivationen und Beiträge kompensiert werden. Einfordern müssen diese Diskurse nicht der Staat von den Branchen, sondern die Branchen vom Staat. Es gilt auch die Komplexität im Diskurs selbst zu hinterfragen: Es braucht weniger Masse, sondern mehr Klasse. Nicht jeder Verband muss sich einzeln und zu allem äußern. Und besonders: Der Lockdown hat die Taktung im digitalen Arbeiten erhöht: zu Hause, zwischen Waschmaschine, Kühlschrank und Computer ertrinken wir etwas schneller im Datenwust, als im Büro. Das gilt auch für die staatlichen Stellen: von 150 E-Mails am Tag geht eine nicht zu verachtende Menge einfach mal unter.
Diskurse aber erfordern Toleranz, Kraft und eine enorme Stamina. Auch sind nicht alle Beiträge eines Diskurses sinnvoll. Wer Diskurse führt, entlarvt nicht nur Populismus und blanken Unsinn, sondern öffnet Türen. Aus solchen Diskursen geht man mit mehr hinaus, als investiert wurde. Das fängt in den Kommunen an, geht über die Länder und hört beim Bund auf. Wer einen Wandel will, muss diskutieren – und zuhören. Verbandsorganisationen sollten das beherzigen: es wird dort am besten diskutiert, wo der Schuh drückt und zwar mit allen, die den Schuh später anziehen müssen: Verbandsmitglieder, Staat und Gesellschaft.
Die Arbeit in der Interessenvertretung wird also anspruchsvoller und mehr werden. Das bedeutet ganz konkret: Interessensvertretungen müssen die Ressourcen dort einsetzen, wo es sinnvoll ist. Ist die Pflege für einen Social-Media-Accounts sinnvoll, wenn die Arbeitszeit beim Vorbereiten einer Debatte notwendig gewesen wäre? Ist es sinnvoll Ministerialebenen mit Papieren und Terminanfragen zu ersticken? Oder ist die Zeit in einen Austausch zwischen den Branchen besser investiert, um gemeinsam Ideen zu entwickeln und gemeinsam vorzutragen? Sind langwierige und zähe Kongresse notwendig, wenn gute Ideen und Umsetzungen bereits im Nachbarland vorhanden sind? Sollte das Geld in Agenturen investiert werden, oder soll eine eigene PR-Stelle geschaffen werden, deren Wert sich erst in einigen Jahren bemessen lässt? Müssen PR-Produkte in unzähligen Abstimmungsschleifen verharren und politisch glattgespült werden, oder würde es sich vielleicht auch auszahlen, direktes Feedback einzuholen – und es zu riskieren, eine blutige Nase zu holen? Papier ist geduldig, Probleme und Chancen sind es nicht.