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Politische Inflation

21.09.2021. In wenigen Tagen findet die Bundestagswahl statt. Schon jetzt ist absehbar, dass sich das Parlament noch weiter aufbläht. Bis zu 1.000 Abgeordnete sind möglich. Das politische Mandat wird entwertet und somit einer politischen Inflation ausgesetzt. Was bedeutet das für Branchen und Interessenvertretungen und wie müssen sie darauf reagieren? Von Adrian H. Messe

 

Systemfehler und mangelnder Reformwille des Gesetzgebers

Es kam, wie es kommen musste: die Fragmentierung der Wählergunst bei den Parteien hat zur Folge, dass der Bundestag der größte aller Zeiten werden wird. Was ist geschehen? Die Stimmen haben sich früher zwischen drei, höchstens vier Parteien aufgeteilt, unter der Führung der Volksparteien. Doch heute ist alles anders. Mit voraussichtlich sechs Parteien im Bundestag, von denen keine mehr wie früher über 40 Prozent kommen wird, ändern sich die proportionalen Verhältnisse maßgeblich. Damit alle Fraktionen fair und im Sinne der Wählerstimmen angemessen vertreten sind, müssen Ausgleichsmandate her.

Der Grund für diese vielen zusätzlichen Sitze im Bundestag ist das komplexe Verfahren nach dem Bundeswahlgesetz (BWG, § 6 Abs. 2) mit dem erschreckend konsequenten Zuteilungsdivisor. Diese Mandatsverteilung nach Sainte-Laguë/Schepers wird unweigerlich dazu führen, dass so lange Ausgleichsmandate herangezogen werden, bis der Proporz am Ende stimmt. Das bedeutet: Mehr Abgeordnete, mehr Verwaltung, mehr Personal und mehr Kosten. Dazu weniger Übersicht, weniger Zeit und weniger Raum für ausgewogene Diskussionen.

Der Gesetzgeber hat darin vollkommen versagt, rechtzeitige Schritte gegen diese Entwicklung einzuleiten. Das System ist schlichtweg ungeeignet, dem im Grundgesetz formulierten Anspruch eines funktionierenden Rede- und Arbeitsparlaments gerecht zu werden. Somit bekommt Deutschland aller Vorrausicht nach die zweigrößte Volksvertretung nach China. Auf die Einwohnerzahl des Landes gerechnet gönnt sich dann niemand mehr Abgeordnete pro Kopf, als die Deutschen. Welche Folgen wird das für die parlamentarische Praxis haben? Was bedeutet das für Branchen und Interessenvertretungen?

 

Das Mandat wird entwertet

Die erste Frage ist vielleicht die wichtigste: gibt es eigentlich für so viele Abgeordnete im Bundestag genügend Arbeit? Wenn insgesamt knapp dreimal so viele Mandate vergeben werden, wie es Wahlkreise gibt, ist diese Frage durchaus berechtigt. Die Fraktionen im Bundestag müssen sich darauf einstellen, viele Hinterbänkler und Newcomer zu versorgen, die normalerweise keine Chance auf ein Mandat gehabt hätten. Die Ausschüsse werden ebenfalls größer, die Abläufe zu Gesetzen oder Initiativen somit schwieriger. Auch die Fraktionsgremien, also vor allem die Arbeitsgruppen und Arbeitskreise der Fraktionen, müssen noch mehr Abgeordnete und Mitarbeiter unterbringen. Außerdem hat ein Tag auch nur 24 Stunden; wie sollen alle Abgeordneten im Bundestag eigentlich angemessen zu Wort kommen?

Nun gibt es zwei Möglichkeiten. Erstens: Der enorm steigende Konkurrenzdruck zwischen den Fraktionen und unter den Abgeordneten (auch fraktionsintern) könnte zu einer Professionalisierung führen, denn nur die Fachleute könnten gute Posten bekommen und in der Hierarchie aufsteigen. Das wäre für die Zusammenarbeit mit Interessenvertretungen hervorragend, denn es gäbe klare und kompetente Ansprechpartner.

Zweitens: Der Fraktionszwang peitscht die Abgeordneten noch stärker auf die Fraktionslinie ein. Die Fraktionen werden mächtiger, denn die Abgeordneten werden zu Konformität gezwungen, wenn sie weiterhin auf gute Posten und Kontakte hoffen wollen. Im Zusammenspiel mit einem Koalitionsausschuss und einem Drei-Parteien-Kabinett würde sich die Macht stark von der Arbeitsebene des Parlaments weg bewegen. Beispielsweise würden Anhörungen in Ausschüssen noch weniger an inhaltlicher Durchschlagkraft haben, da das Agenda Setting abseits dieser parlamentarischen Gremien stattfinden würde, nämlich hinter geschlossen Türen der Koalitionsrunden, denen die Spitzen aus Parteien, Ministerien und Fraktionen beiwohnen würden.

Die zweite Variante ist die wahrscheinlichere. Die Abgeordneten verlieren folglich zusehends an Wirkungsmöglichkeiten. Das stellt den Sinn und Zweck eines Proporzsystems in Frage. Ein Parlament mit 1.000 Abgeordneten mit jeweils zu wenigen individuellen Mitwirkungsmöglichkeiten macht die einzelnen Mandatsträger für die Vertretung der Bürgerinteressen und denen der Branchen kaum noch interessant. 

 

Emanzipiert sich der Bundestag endlich von den Ministerien?

Doch sollte diese Entwicklung differenziert betrachtet werden. Dieser zu erwartende Machtzuwachs der Fraktionen könnte auch einen positiven Effekt im Sinne der Gewaltenteilung mit sich führen. Mit mehr Fraktionsmitarbeitern lässt sich mehr Knowhow aufbauen. Gut dotierte Fachleute hätten mehr Gelegenheit, sich in Themen einzufuchsen und komplexe Sachstände zu erfassen. Das wäre wünschenswert, denn in den letzten Jahren haben sich die Ministerien gegenüber den Fraktionen fachlich viel besser aufgestellt, als es eine Fraktion je könnte. Das Problem dieser Entwicklung ist eindeutig: Gegen Referentenentwürfe, die den Umfang einer Zeitschrift haben, kommt keine Fraktion an, wenn sie nicht ausreichend Zeit und Personal hat, um die Fakten zu prüfen und die eigene politische Agenda einzubringen.

Mit größeren parlamentarischen Ressourcen lässt sich seitens der Fraktionen da schon viel mehr machen. Doch auch hier ist eine achtsame Sichtweise notwendig. So könnte der hohe Verwaltungsaufwand, den der neue Bundestag mit sich bringt, zum Hemmschuh werden. Die Ausschüsse drohen sich wie das Plenum aufzublähen, da sie die Abgeordneten unterbringen müssen. Es könnte geschehen, dass sich diese Ausschüsse und die zugehörigen Fraktionsgremien vermehrt mit sich selbst beschäftigen, anstatt mit Inhalten, da die Einigungsprozesse schwieriger werden.

Außerdem ist absehbar, dass sich die Ministerien nicht lumpen lassen werden. Auch sie werden insbesondere in den politischen Verbindungsabteilungen zum Parlament ihrerseits mit mehr Personal reagieren. Der Machtzuwachs der Ministerien über die letzten Jahre ist nicht über Nacht wettzumachen. Der Bundestag wird es nicht leicht haben, sich gegenüber der Regierung zu emanzipieren.

Zudem wird ein Dreierbündnis, zwischen welchen Parteien auch immer, die Entscheidungsebenen in einen Koalitionsausschuss verlagern. Die aktuelle Regierungsadministration hat die Ministerien in den letzten Jahren verstärkt frei eigene Agenden aufsetzen lassen. Die Pandemie hat zwar neue Entscheidungsmechanismen geschaffen, die jedoch für eine neue Regierungskoalition langfristig nicht von Interesse sind. Ein Koalitionsausschuss, dem die Parteivorsitzenden, die Parteizentralen und die Fraktionsspitzen angehören, gibt klassischer Weise die Marschrichtung vor, die in den Arbeitskreisen der Fraktionen und den Ausschüssen umgesetzt werden müssten. Kurzum: der Bundestag verliert sich im Mikromanagement der vom Koalitionsausschuss vorgegebenen politischen Metaebene. Das wiederum entmächtigt das Parlament der Möglichkeit eines agilen und selbstbestimmten Agenda Settings.

 

Wie müssen die Branchen reagieren?

Durch das Dickicht von Ministerien, politischen Ministerialabteilungen, Fachabteilungen, Referaten, parlamentarischen Ausschüssen und Fraktionen muss man erstmal durchblicken. Das ist nach jeder Wahl so, insbesondere wenn es zu einem Regierungswechsel kommen sollte. Leider haben Interessenvertretungen keinen Freifahrtsschein für unbegrenzt viel per Personal. Doch ist es vor allem das mühevolle Klinkenputzen an den richtigen Türen, was Interessenvertretungen vorwärtsbringt. Das benötigt Zeit, Geld und eben Personal. Wenn sich der Bundestag und der Regierungsapparat aufblähen, sind es mehr Türen, die es zu öffnen gilt. Was also tun, wenn man zu den Entscheidungsebenen oder den Fachebenen durchdringen will?

Anstelle sich mit einer Unzahl von fachpolitischen Sprechern, Berichterstattern und Mitarbeitern herumzuschlagen, sollten die Verbände verstärkt auf die Fraktionsspitzen und die Fraktionsmitarbeiter zugehen. Es macht immer weniger Sinn, mit Mandatsträgern Einzelgespräche zu speziellen Themen auf Mikroebene zu führen. Parlamentarische Abende, Gruppenveranstaltungen oder gemeinsame, ressortübergreifende Termine werden in Zukunft also wichtiger als der direkte und einzelne Kontakt zu Abgeordneten.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Konsolidierung der Brancheninteressen. Wenn einzelne Interessenvertretungen nicht das Geld haben, um mehr Fachreferenten oder Public Affairs Referenten einzustellen, müssen Ressourcen gebunden und Allianzen geschmiedet werden. Das kann durch Dachverbände geschehen oder aber durch einfache Verbünde und Kooperationen. Wichtig ist vor allem, dass die Public Affairs in der deutschen Interessenvertretung näher an die internen Fachgebiete herangeführt werden. Nur ein politischer Referent, der die Themen versteht, kann die richtigen Fachleute in den Ministerien und im Parlament identifizieren.

 

Fazit: Verschwenden Sie ihre Zeit nicht an einzelne Mandatsträger

Wenn Abgeordnete als einzelne Funktionäre und Mandatsträger immer weniger zu sagen haben, sollte man seine Zeit nicht an sie verschwenden. Interessenvertretung geht immer dort hin, wo Entscheidungen vorbereitet und gefällt werden. In den letzten Jahren waren das immer mehr die Ministerien. Die Ausschüsse und Anhörungen im Bundestag hatten kaum noch einen Einfluss auf die echten Entscheidungen, die im Kabinett gefällt wurden.

Die Bundestagswahl bringt aller Wahrscheinlichkeit nach einen großen Umschwung mit sich: die Fraktionen und Parteiapparate in den Fraktionen werden alles tun, um sich gegenüber den Ministerien und den Koalitionspartnern zu emanzipieren. Die politische Macht im Parlament wird sich auf die Fraktionsspitzen fokussieren. Diese sind Teil eines künftigen Koalitionsausschusses.

Darauf müssen sich die Branchen einstellen. Entschieden wird in Zukunft weniger im Kanzleramt oder in den Ressorts, sondern verstärkt im Koalitionsausschuss und den obersten Ebenen der Parteien. Die themenbezogenen Backoffices des Koalitionsausschusses werden von den Fraktionen und ihren Gremien gestellt. Dort, wo die Ministerien mit eigenen Parteileuten besetzt sind, werden die Backoffices eng mit den Ministerien kooperieren. Mittlere Fraktionsebenen, wie Berichterstatter oder Obleute werden weniger Einfluss haben. Einfache Ausschussmitglieder letztendlich drohen in der Masse unterzugehen. 

Branchenvertreter werden also nach der Wahl viel Arbeit haben. Sie müssen schnellstens herausfinden, wie die für sie relevanten Gremien besetzt sind, wer dort das Sagen hat und wer mit wem verknüpft ist. Das A und O für eine gute Interessenvertretung wird also ein komplexes und detailliertes politisches Stakeholdermapping sein. Um eine solche Übersicht zu schaffen, werden viele Verbände miteinander kooperieren müssen, wenn sie dem gigantischen Apparat des Bundestags auf Augenhöhe begegnen wollen.

 

 

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