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Brain Drain made in Germany – Wie Rezession und Bürokratie Arbeitnehmer aus dem Land treiben

25.07.2023: Insolvenzen, Inflation, Kostenexplosionen. Die Rezession in Deutschland hat sich festgesetzt. Hinzu kommt: Immer mehr Fachkräfte verlassen Deutschland dauerhaft. Innovation, Wohlstand und Perspektiven werden von Bürokratie, Teuerung, zu hohen Steuern und Dauerkrisen zunehmend erdrückt. Was also tun, um den Brain-Drain umzukehren?

Von Adrian H. Messe

 

Der perfekte Sturm am Horizont

„Das ist mir alles zu negativ“, sagte mir vor einigen Wochen ein Freund, als ich von meiner Sicht auf die wirtschaftliche Lage in Deutschland sprach. Gewundert hat es mich nicht, denn negative Schlagzeilen sind aktuell die Regel. Leider ignorieren immer noch viel zu viele Unternehmer und Politiker, wie dramatisch der Fachkräftemangel in Deutschland wirklich ist – insbesondere was die Abwanderung von Fachkräften betrifft. Laut OECD leben rund fünf Prozent der Deutschen im Ausland – das ist international ein wenig erstrebenswerter dritter Platz.

Der Freund und ich sprachen über die Frage, wie er für sein Büro neue Mitarbeiter bekommt, die ihm helfen, seine Kundenaufträge zu bearbeiten. „Früher war das nicht so“, sagte er. Aber heute bekäme er kaum noch Schreibkräfte. Dabei sei doch die Arbeitslosigkeit so hoch, dass es genügend Interessenten geben sollte. Solche Gespräche häufen sich. Die meisten Unternehmer im Mittelstand, besonders in der Gastronomie, haben große Probleme, Personal zu gewinnen und zu behalten. Noch schwerer haben es High-Tech-Betriebe, denn hier ist der Mangel bereits branchenweit geschäftsgefährdend, da Innovationen und bessere Gehälter im Ausland einen schnell aus dem Markt drücken können.

Alle Wirtschaftszahlen und Erhebungen weisen darauf hin: Deutschland ist in einer schweren Rezession. Der Fachkräftemangel lässt den kalten Wind der Krise nur noch schneidender ins Gesicht wehen. Noch nie floss mehr Geld an Direktinvestitionen aus Deutschland ab, als mit 125 Milliarden Euro letztes Jahr. Der Einkaufsmanagerindex in Deutschland hat die Krisenmarke von 45 unterschritten und liegt nun auf 38,8 – das ist der niedrigste Stand seit der großen Bankenkrise vor 15 Jahren. Die Inflation schleicht auf satten 6,4 Prozent vor sich hin. Auch die Unternehmensinsolvenzen vermelden einen Anstieg von 16 Prozent und somit den höchsten Stand seit 20 Jahren. Immer mehr große Unternehmen fahren ihre Produktion zurück und verlegen sie ins Ausland. Und das mittelfristig in den nächsten zwei bis vier Jahren. Alles zusammen bildet rein sachlich gesehen ein toxisches Umfeld, das Investoren aus dem Ausland bereits ausreichend abschreckt, die Tendenz am Investitionsinteresse fällt stetig.

Hinzu kommen viele Faktoren, die es Unternehmensgründungen in Deutschland unerhört schwer machen: Ausufernde Bürokratie, überlastete Beamte, hohe Sozialabgeben und sehr hohe Energiekosten. Sprich: Weder die Inflation, noch die Insolvenzen oder die Abwanderung von Investitionen kann momentan in Deutschland auch nur perspektivisch kompensiert werden. Im Gegenteil: Steigende Ausgaben für den Sozialstaat, Steuererhöhungen, Kürzungen von Sozialleistungen und eine starke Belastung aller staatlichen Instanzen durch Flucht und Migration bedeuten, dass das deutsche Staatswesen künftig mehr knapsen und Geld eintreiben muss.   Alles zusammen braut sich ein perfekter Sturm zusammen. Der Staat wird deutlich weniger Geld einnehmen. Nicht nur, weil weniger Geld durch Exporte und Dienstleistungen erwirtschaftet werden. Es werden auch deutlich weniger gut bezahlte und innovative, steuerpflichtige Jobs in Deutschland geschaffen werden, als notwendig wäre, um das Ruder herum zu reißen. Nun ist guter Rat teuer und ein guter Lotse, der durch den Sturm bringt, ist nicht in Sicht.

 

Goodbye Germany – nicht alle Auswanderer kehren zurück

Hinzu kommt, dass seit Jahren ein Schwelbrand lauert, den kaum jemand offen anspricht: Die Abwanderung der letzten Jahre aus Deutschland hat sich nicht nur verstetigt, sondern beschleunigt. Letztes Jahr wanderten 1,2 Millionen Menschen aus Deutschland aus, darunter waren 935.516 Ausländer und 268.167 Personen mit dem deutschen Pass. Zugeben: zwischen Zuwanderung und Einwanderung besteht eine große Fluktuation. Es ist ein hin und her, viele gehen, viele kehren zurück. Die Mehrheit der deutschen Auswanderer zog es in die Schweiz, nach Österreich und in die Vereinigten Staaten. Viele dieser Auswanderer sind bestens qualifiziert. An sich ist eine starke Wanderungsbewegung gut qualifizierter Arbeitskräfte kein Problem, so lange im Saldo die Rückkehrerquote stimmt. Doch zeigt die Tendenz der letzten zehn Jahre, dass die Auswanderungsquote stetig ansteigt und mehrere Millionen Menschen Deutschland verlassen haben. Das Problem: Immer mehr von ihnen kehren nie wieder zurück und in Zeiten des Fachkräftemangels, in dem jeder Kopf gebraucht wird, ist das ein ernstzunehmendes Problem. Es ist die größte Auswanderungswelle aus Deutschland seit 1848.

Und es tut sich ein weiteres Problem auf: sehr gut qualifizierte ausländische Arbeitskräfte wollen auch immer seltener in Deutschland bleiben. Zu hohe Abgaben, zu wenig Perspektiven auf einen sozialen Aufstieg und ein bereits verteilter Wohlstand im Sinne von „sterben und erben“ machen es zunehmend unattraktiv, sich in Deutschland dauerhaft ein neues Leben aufzubauen, wenn man anderorts genauso oder besser verdient – und mehr auf der Hand bleibt, nachdem der Fiskus zugegriffen hat. Wer schafft es schon, nach Deutschland zu kommen, aus eigener Kraft ein Kapital von knapp einer Millionen Euro aufzubauen, um ein Grundstück in den Speckgürteln unserer Großstädte zu erwerben und ein Haus zu bauen?

 

Reden ist Silber, Veränderung ist Gold

Wie konnte es aber soweit kommen? Eines der Hauptprobleme ist, dass die Partikularinteressen der deutschen Branchenvertretungen fragmentiert und föderal gesplittet sind. Die einstige Stärke, nämlich eine tiefe Verankerung vor Ort, mit entsprechenden Knowhow und Vernetzungen, wird nun zum Hemmschuh. Viele Berufsbilder stecken in alten Denkmustern fest, da deutschlandweiter oder gar internationaler Austausch mit anderen Branchenvertretern aus vielen Gründen viel zu oft scheitert. Angefangen bei den sehr spezifischen deutschen Arbeits- und Steuergesetzen, über unterschiedliche Ausbildungswege bis hin zur schnöden Überlastung der Geschäftsstellen der Branchenverbände und Innungen – ein klares Bild, wie die Konkurrenz im Ausland arbeitet und was sie attraktiver macht, besteht leider nur selten. So kann eben auch nicht an Staat und Politik artikuliert werden, was notwendig wäre, um ganze Branchen attraktiver zu machen und umzukrempeln.

Ein Beispiel: Die deutschen Wissenschaftsinstitute vergeben meistens Arbeitsverträge, die nach dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes laufen oder dementsprechend angeglichen sind. Im Vergleich zu den USA verdienen wissenschaftliche Mitarbeiter oder Professoren in Deutschland nur sehr wenig. Wissenschaftliche Angestellte in Deutschland haben viel zu wenig Gelegenheit, innovativ zu arbeiten und zu publizieren, da sie in Verwaltungsaufgaben oder Lehraufgaben gefangen sind. In Zeiten von „publish or perish“ ist das für die internationale Reputation tödlich. Auch bemerkenswert ist, dass Innovation in Deutschland von Oben nach Unten gedacht wird: Während amerikanische Wissenschaftler buchstäblich zu einem gewissen Prozentsatz dafür bezahlt werden, „innovativ zu denken und sich etwas auszudenken“, wird in Deutschland geförderte Projektarbeit geleistet, die im Wasserfallprinzip vorgefertigte Ergebnisse liefern muss. Wissenschaftliche Mitarbeiter eines Instituts in den USA und entsprechende Professoren verdienen im Schnitt um den Faktor drei mehr, als in Deutschland. Ein promovierter Ingenieur in Deutschland verdient an einem Institut knapp 65 Tausend Euro, in den USA sind es mindestens 20 Tausend Dollar mehr. Hinzu kommen weniger Steuern. Für sehr gut qualifizierte Ingenieure liegt die Gehaltsspanne in Deutschland bei 80-90 Tausend Euro, während sie in den USA ohne weiteres bis 250 Tausend Dollar reicht. Wen wundert es, wenn unsere besten Köpfe nicht dort bleiben, wo sie ausgebildet wurden, sondern dorthin gehen, wo sie schlichtweg mehr das dreifache verdienen?

Anstatt Veränderungsbedarf zu erkennen, zu definieren und in Wirtschaft und Politik zu implementieren, wurden die Branchenvertretungen zu Erfüllungsbeauftragen des Staates degradiert. Die Schuld liegt auf beiden Seiten: Das Staatswesen, das nur noch die Stimmen wahrnimmt, die den eigenen Kurs unterstützen, und die Branchen selbst, denen es nicht gelungen ist ihre Interessen zu Bündeln und somit die Regierung gehörig unter Druck zu setzen. Es ist keine Lösung, möglichst viele Positionspapiere zu schreiben und zu veröffentlichen, wenn sie niemand ließt oder gar absichtlich ignoriert, wie es in den letzten Jahren in den Ministerien zu häufig vorkam. Viel eher müssen sich die Branchen nun von Grund auf reformieren: anstatt 16 verschiedene Landesverbände zu unterhalten, die regionale Interessen abarbeiten, müssen starke und branchenübergreifende, kooperative Zentralen aufgebaut werden. Sie müssen der ausufernden Bürokratie den Konter geben, den niemand mehr ignorieren kann. Sie müssen zeigen: Das Knowhow, wie Wirtschaft funktioniert liegt in den Branchen, nicht bei der Exekutive.  

 

Was wir brauchen: Weniger Staat, weniger Regulierung und mehr Innovation

Mit steigenden Löhnen ist es nicht getan. Natürlich: wer mehr verdient, hat einen höheren Lebensstandard. Zumindest, wenn nicht alles von Steuern und Lebenserhaltungskosten aufgebraucht wird. Aber es geht auch um die Wettbewerbsfähigkeit. Wer in Deutschland ein Geschäft starten will, ist inzwischen eher die Ausnahme. Zu hoch sind die Hürden, die Regulierungen und vor allem die Kosten. Während in den USA quasi mit Geld um sich geworden wird, und gute Ideen mit mehrstelligen Millionenideen gefördert werden, schütteln deutsche Banken den Kopf und vergeben nicht einmal das Geld das notwendig wäre, um das erste Jahr nach Geschäftsgründung zu überstehen. Das betrifft insbesondere aufstrebende Segmente, wie etwa Weltraumunternehmungen – ein Milliardenmarkt, den deutsche Ingenieure immer öfter im Ausland voran treiben, anstatt in der Heimat. Selbst wenn vier von fünf neuen Raumfahrtunternehmen in den Vereinigten Staaten die Gründungsjahre nicht überstehen, bleiben noch immer viel mehr Unternehmen übrig, als in Europa und vor allem in Deutschland überhaupt gegründet werden. Das heißt also, dass die Investmenthürden deutlich gelockert werden müssen. So entstehen neue Jobs und Innovation kann sich etablieren.

Ferner muss der Staat seine Ausgabenpolitik deutlich überdenken. Die enormen Kosten des Sozialstaates sind nicht mehr über einfache Umschichtungen oder Umverteilungen zu decken. Der Mittelstand und die Mittelschicht in Deutschland haben schlichtweg nicht mehr die finanzielle Kraft, den Laden am Laufen zu halten. Ein Indiz dafür ist die Sparquote in Deutschland, die sich seit der Pandemie viel zu wenig erholt hat, um die Kostensteigerungen von Inflation und Steuererhöhungen zu decken. Die Zahlen für 2023 werden letztendlich zeigen, ob Einkommen im Median in Deutschland überhaupt noch wettbewerbsfähig sind mit den europäischen Nachbarn, oder nicht.   Auch die Arbeits- und Unternehmenskultur in Deutschland muss sich ändern. Egal wie abgedroschen der Spruch „Arbeit muss sich lohnen“ auch klingen mag, selten war er so aktuell wie heute. Gerade Jobs mit niedrigen Einkommen, etwa im Bereich sozialer Dienstleistungen oder in der Infrastruktur, brauchen jeden Euro, um über die Runden zu kommen. Hier ist die Sparquote auf einem fatal niedrigen Niveau. Es stellt sich also immer stärker die Frage der sozialen Gerechtigkeit. Diejenigen, welche die einstmals gute geölte Maschine der Deutschland-AG am Laufen gehalten haben, können sich das Leben in eben dieser immer weniger leisten. Zu hohe Mieten, zu hohe Lebenserhaltungskosten, schlechte Bildungsaussichten und immer weniger Aufstiegschancen tun ihr übriges: Nicht nur unsere „klügsten Köpfe“ wandern aus, auch unsere „fleißigsten Hände“ der mittleren und unteren Einkommen haben im Ausland immer häufiger bessere Perspektiven, als hier zu Lande.

 

Deutschland muss sich neu erfinden

Der Fachkräftemangel in Deutschland hat also drei Aspekte: Zum einen fehlen schlichtweg an allen Ecken und Enden Arbeitnehmer, was am demografischen Wandel liegt. Die großen Rentenwellen der nächsten Jahre sind so gravierend, dass es in allen Branchen bereits jetzt lichterloh brennt. Zweitens zeigt die aktuelle Migrationsbewegung nach Deutschland, dass viel zu wenig ausgebildete und qualifizierte Fachkräfte in Deutschland bleiben wollen, wenn sie nach ein paar Jahren vor die Wahl gestellt werden. Drittens wandern zu viele Inhaber des deutschen Passes dauerhaft ins Ausland ab, weil sie dort bessere Löhne, höhere Sparquoten und somit bessere Perspektiven haben.

Wer den gordischen Knoten der föderalen Verflechtungsfalle in Deutschland wirklich lösen will, muss ihn letztendlich zerschlagen. Eine schlankere, kostensparendere Bürokratie wäre bereits ein Anfang. Doch nicht weit reichend genug, denn gerade die Fragen der sozialen Gerechtigkeit und des Fachkräftemangels werden die größten Punkte der nächsten Jahre in Deutschland werden. Es geht darum, Arbeit und Perspektiven fair und gerecht zu schaffen, damit der Spruch von Ludwig Ehrhard „Wohlstand für alle“ zu einem Programm der gesamten Gesellschaft wird. Interessen und Innovationen müssen gesammelt und homogenisiert werden, um die Veränderungsbedarfe mit der höchsten Priorität anzugehen. Das bedeutet, dass das Klein-Klein von Branchenvertretungen, Parteien und staatlichen Instanzen ein Ende haben muss. Deregulierung bedeutet nicht die Auflösung des Föderalismus und die Schaffung eines Zentralstaates. Sie bedeutet, dass dort, wo die Reibungsverluste am größten sind, Brücken gebaut werden, damit möglichst viele darüber gehen können um sich Wohlstand und Perspektiven selbst zu schaffen.

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