Bild: Pixabay, 652234
12.06.2022: Die Krisenkaskade ist da – doch anders, als erwartet. Der Krieg in der Ukraine ist „eine Krise zu viel“, als dass die europäische Wirtschaft sie neben Corona, Energiekrise und Handelskrise verkraften könnte. Es ist für Wirtschaft, Interessenvertretungen und Parteien an der Zeit, umzudenken. Sie müssen zusammenarbeiten, Kommunikation und Public Affairs neu denken.
Von Adrian H. Messe
Es sieht nicht gut aus für die Wirtschaft. Die Politik in Deutschland fährt auf Sicht, weil ihr kaum etwas anderes übrigbleibt. Die Debatte um den verpufften Effekt der Spritpreisbremse ist nur ein Indiz von vielen, dass die Bundesregierung systemisch bedingt nicht in der Lage ist, eine mittelfristige Strategie im Dickicht aus nationalen, europäischen und internationalen Fragen zu finden. Bisher hat sich das Geschäftsklima als robust erwiesen, doch ist zu erwarten, dass der aktuelle Trend des Missmuts anhalten wird. Die Inflationsdaten tun aktuell ihr übriges: es stehen an den Finanzmärkten turbulente Wochen bevor, Kleinanleger, Investoren und Unternehmen werden Geld verlieren, das steht fest. Betroffen sind Renten, Investitionskapital, aber auch Rücklagen und die meisten Finanzmarktprodukte. Weniger Kapital bedeutet für Unternehmen, dass sie die angespannte Preis- und Produktionslage aufgrund der massiven Lieferkettenprobleme immer schwerer bewältigen können werden. Der nun begonnene Kampf um höhere Löhne kommt da noch hinzu. Zudem werden die Preise für Benzin und Diesel im August und September weiter steigen. Für die europäischen Länder und insbesondere für Deutschland wird der Preisschock noch stärker werden, da die Preisbremse der Regierung ausläuft.
Eine der größten Innovationshemmnisse des Föderalismus in Deutschland ist seine Fragmentierung. Wirtschaftliche Interessen sind in unzähligen Verbänden, Regionalverbänden, Kammern und Arbeitsgruppen organisiert. Nur langsam haben sie in den letzten Jahren begonnen, ihre Strukturen anzupassen und teilweise zu zentralisieren oder den Bedürfnissen moderner Mitgliederbetreuung anzupassen. Aber nicht alles ist über Social Media zu lösen, neue Organigramme oder über eine neue Arbeitsgruppen. Die Spezialisierung und Professionalisierung der Industrie- und Gewerbesparten in Deutschland hat immer mehr zur Folge, dass die Verknüpfung von politischen Implikationen mit Unternehmens- und Verbandsinteressen schwerer fällt. Die Aufgaben und Problemstellungen sind so komplex, dass nur noch die Fachreferenten oder Fachingenieure verstehen, worum es geht.
Gleiches gilt für das Parteiwesen: Noch stärker als unter der letzten Merkel-Administration werden die politischen Richtlinien am Parlament vorbei vom Koalitionsausschuss und den Ministerien selbst bestimmt. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Weder die Bundestagsfraktionen noch die Parteibüros haben genug Knowhow und Personal, um die politische Agenda zu erfassen und zu bestimmen. Sie beschränken sich auf Makrofragen und Öffentlichkeitsarbeit. Die Ministerien hingegen sind im internen und externen Kompetenzgerangel gefangen. Auch hier kommt hinzu, dass sich das Expertenwissen zusehends in den Abteilungen und Referaten fragmentiert hat. Am Ende sind es die einzelnen Fachreferenten, die ihren Bereich verstehen und überschauen können. Dieses komplexe Wissen müssen sie aber aufbereiten und verkürzen, um es in den Hausspitzen entscheidungsfähig zu machen. Die Folge: Eine systemische Übersicht über die komplexen Zusammenhänge im Land fällt in den Ministerien immer schwerer. Die Bundesregierung und insbesondere das Bundeskanzleramt sehen sich dem gleichen Phänomen gegenüber, das schon Napoleon 1812 beklagt hatte. Es war ihm kaum möglich nachzuvollziehen, wie es um seinen Staat und seinen Russlandfeldzug stand, da die Informationen, die er dafür benötigt hatte, schlichtweg weggekürzt worden waren, damit er schnell und einfach Entscheidungen fällen konnte. Außerdem übte die Strukturangst Druck aus, sodass unliebsame Daten gar nicht so richtig erfasst worden sind.
Konzerne, Unternehmen, Mittelstand und Interessenvertretungen sind jetzt gefragt. Sie müssen Einfluss nehmen und den systemischen Blick auf das große Ganze wieder möglich machen. Das ist nicht einfach. Auf der einen Seite gibt es in Deutschland viel zu viele Interessenvertretungen, die mit ihren eigenen Branchenproblemen zu kämpfen haben. Und dennoch haben sie eine Daseinsberechtigung, denn sie übernehmen systemrelevante und maßgebliche Aufgbaen. Auf der anderen Seite erscheinen die Strukturen der Branchen und ihrer Interessenvertretungen nicht so einfach unterneinander kompatibel zu sein. Was will also die Bäckerinnung gemeinsame Sache machen mit dem Verband der Solaranlagenbauer?
Doch müssen es nicht gleich Verbandszusammenlegungen sein. Auch neue, große und ausufernde Gremien, sind nicht zielführend. Stattdessen sollten die Branchen gemeinsame Fachtage, Vorstandssitzungen und Arbeitstreffen organisieren, um die gemeinsamen Nenner zu finden und zu formulieren. Es muss dabei echte Ergebnisse geben und klare Regelungen, wer, wie und wann an die Politik herantrtitt.
In der Folge dessen müssen sie bei Landes- und Bundesregierungen die Daumenschrauben anziehen: mit gemeinsamen und gesammelten Kräften ist es ihre Pflicht und Aufgabe, nicht nur auf Missstände hinzuweisen, sondern Lösungen zu erarbeiten. Sie müssen sich dazu auch zusammentun und ihre Interessen aufbereitet für Presse und Öffentlichkeit präsentieren. Wichtig ist hierbei, sich endlich zu lösen von gemeinsamen Kampagnen mit dem Bund, sondern eigene Akzente zu setzen.
Für Gewerkschaften und Berufsverbände gilt: sie dürfen sich die Butter einerseits nicht vom Brot nehmen lassen, denn für viele Menschen im Land geht es buchstäblich darum, den Kühlschrank zu füllen. Gleichzeitig müssen sie Arbeitgebern und Politik Auswege lassen und Kompromissbereitschaft zeigen, wenn es um Lohn- und Tarifangleichungen geht. Darum haben Arbeitnehmervertretungen wohl die wichtigste und schwerste Arbeit dieser Tage, sie müssen schubsen, nicht bremsen.
Alles in allem bedeutet das eines: Wirtschaft, Verbände, Arbeitnehmervertretungen und weitere Nichtregierungsorganisationen müssen sich von Bundes- und Landesregierungen viel stärker emanzipieren, als sie es in den letzten Jahren und Monaten getan haben. Sie müssen sich zusammentun und gemeinsam vorgehen. Möglicherweise sind nationale Wirtschaftskongresse die Lösung, bei denen den Ministern aber nicht hofiert wird, sondern offen die Finger in die Wunden gelegt werden und echte Debatten angestoßen und echte Ergebnisse geliefert werden. Auch muss internationaler gedacht und gehandelt werden. Das regionale Arbeiten in Deutschland hat in der Lobbyarbeit durchaus Sinn und ist auf hohem Niveau. Andererseits ist der Blick auf regionaler Ebene verstellt, die Gelder knapp und die Möglichkeiten beschränkt. Die Parteifunktionäre müssen ebenfalls in den Parlamenten Stärke und Kompetenz gewinnen, denn sie sind es, die am nächsten an den Unternehmen in ihren Wahlkreisen dran sind. An der Zeit wäre es.